BGH: endgültiger Abschied vom Altersphasenmodell

Das Unterhaltsrecht ist in besonderem Maße durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geprägt. Umso wichtiger ist die laufende Information über die neuesten Urteile des BGH. Mit seiner Entscheidung vom 30. März 2011 konkretisiert der BGH die Anforderungen an einen nachehelichen Betreuungsunterhalt über die Vollendung des dritten Lebensjahres eines zu betreuenden Kindes hinaus. Insbesondere der Vorrang der Erwerbsobliegenheit vor der persönlichen Betreuung wird herausgestellt.
Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung über eine Verlängerung des Betreuungsunter-halts aus kindbezogenen Gründen nach § 1570 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB ist stets zunächst der individuelle Umstand zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Kindes-betreuung auf andere Weise gesichert ist oder in kindgerechten Betreuungseinrichtun-gen gesichert werden könnte. Ein Altersphasenmodell, das bei der Frage der Verlänge-rung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen allein oder wesentlich auf das Alter des Kindes, etwa während der Kindergarten- und Grundschulzeit, abstellt, wird diesen Anforderungen nicht gerecht (im Anschluss an das Senatsurteil vom 15. September 2010 – XII ZR 20/09 – FamRZ 2010, 1880).

BGH, Urteil vom 30. März 2011 – XII ZR 3/09 in den wichtigsten Auszügen

Tatbestand:
Der 1971 geborene Antragsteller und die 1967 geborene Antragsgegne-rin hatten im Januar 2002 geheiratet. Im Februar 2002 wurde der gemeinsame Sohn geboren. Im Januar 2005 trennten sich die Parteien. Auf den im Februar 2006 zugestellten Scheidungsantrag wurde die Ehe der Parteien mit Verbund-urteil geschieden, das hinsichtlich des Scheidungsausspruchs seit dem 29. August 2008 rechtskräftig ist.
Die Antragsgegnerin betreute während der Ehezeit den gemeinsamen Sohn und betrieb in der Ehewohnung ein Nagelstudio. Seit der Trennung ist sie in diesem Beruf fünf bis sechs Stunden täglich erwerbstätig, erzielt aber nur sehr geringe Einkünfte. Der gemeinsame Sohn wird seit der Trennung überwie-gend von der Antragsgegnerin betreut. Seit September 2008 besucht er die Grundschule und an zwei Tagen wöchentlich anschließend bis 15.00 Uhr einen Kinderhort. Der Schulhort bietet eine werktägliche Betreuung bis mindestens 17.00 Uhr an. Die Instanzgerichte haben der Antragsgegnerin auf der Grundla-ge einer etwa fünfstündigen täglichen Erwerbspflicht ein aus abhängiger Er-werbstätigkeit erzielbares Nettoeinkommen in Höhe von 790 € zugerechnet.
Der Antragsteller war während der Ehezeit in Vollzeit erwerbstätig und hatte im Jahr 2004 ein Bruttoeinkommen in Höhe von 45.080,80 € erzielt. Nach der Trennung reduzierte er seine Arbeitszeit ab April 2005 auf 25 Stunden pro Woche. Seitdem erzielt er nur noch Nettoeinkünfte in Höhe von monatlich 1.381,25 €. Über sein Vermögen wurde am 21. August 2008 die Verbraucherin-solvenz eröffnet.
4Das Amtsgericht hat den Antragsteller verurteilt, an die Antragsgegnerin nachehelichen Unterhalt in Höhe von monatlich 463 € zu zahlen. Das Oberlan-desgericht hat die Berufung des Antragstellers, mit der er einen Wegfall seiner Unterhaltspflicht erstrebte, zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Ober-landesgericht zugelassene Revision des Antragstellers, mit der er sein Begeh-ren weiterverfolgt.
Aus den Gründen:
Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 1570 BGB den nachehelichen Betreuungsunterhalt grundlegend umgestaltet. Er hat einen auf drei Jahre befristeten Basisunterhalt eingeführt, der aus Gründen der Billigkeit verlängert werden kann (BT-Drucks. 16/6980 S. 8 f.). Im Rahmen dieser Billigkeitsentscheidung sind nach dem Willen des Gesetzgebers kind- und elternbezogene Verlängerungsgründe zu berücksichtigen. Obwohl der Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB als Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten ausgestaltet ist, wird er vor allen Dingen im Interesse des Kindes gewährt, um dessen Betreuung und Erziehung sicherzustellen (BT-Drucks. 16/6980 S. 9; Senatsurteile BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 19 und vom 15. September 2010 – XII ZR 20/09 – FamRZ 2010, 1880 Rn. 18).
a) In den ersten drei Lebensjahren des Kindes kann der betreuende El-ternteil frei entscheiden, ob er das Kind selbst erziehen oder eine andere Betreuungsmöglichkeit in Anspruch nehmen will. Er kann in dieser Zeit auch eine bereits begonnene Erwerbstätigkeit jederzeit wieder aufgeben. Erzielt er in dieser Zeit allerdings eigene Einkünfte, bleiben diese nicht als überobligatorisch völlig unberücksichtigt, sondern sind nach den Umständen des Einzelfalles anteilig zu berücksichtigen (Senatsurteile BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 20 f. und BGHZ 162, 384, 391 ff. = FamRZ 2005, 1154, 1156 f.).
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b) Für die Zeit ab Vollendung des dritten Lebensjahres steht dem betreu-enden Elternteil nach der gesetzlichen Neuregelung nur noch dann ein fortdau-ernder Anspruch auf Betreuungsunterhalt zu, wenn dies der Billigkeit entspricht (§ 1570 Abs. 1 Satz 2 BGB). Damit verlangt die Neuregelung allerdings regel-mäßig keinen abrupten Wechsel von der elterlichen Betreuung zu einer Voll-zeiterwerbstätigkeit (BT-Drucks. 16/6980 S. 9). Nach Maßgabe der im Gesetz genannten kindbezogenen (§ 1570 Abs. 1 Satz 3 BGB) und elternbezogenen (§ 1570 Abs. 2 BGB) Gründe ist auch nach dem neuen Unterhaltsrecht ein ge-stufter Übergang bis hin zu einer Vollzeiterwerbstätigkeit möglich. Zugleich hat der Gesetzgeber mit der gesetzlichen Neuregelung des § 1570 BGB dem unterhaltsberechtigten Elternteil die Darlegungs- und Beweis-last für die Voraussetzungen einer Verlängerung des Betreuungsunterhalts über die Dauer von drei Jahren hinaus auferlegt.

Die Beweislast

Kind- oder elternbezogene Gründe, die zu einer Verlängerung des Betreuungsunterhalts über die Vollendung des dritten Lebensjahres hinaus aus Gründen der Billigkeit führen könnten, sind deswegen vom Unterhaltsberechtigten darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (Senatsurteile BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 23 und BGHZ 177, 272 = FamRZ 2008, 1739 Rn. 97).
Soweit in Rechtsprechung und Literatur auch zu der seit dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des § 1570 BGB abweichende Auffassungen vertreten wurden, die an das frühere Altersphasenmodell anknüpften und eine Verlänge-rung des Betreuungsunterhalts allein vom Kindesalter abhängig machten, sind diese im Hinblick auf den eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht haltbar (Senatsurteil BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 28). Die Betreuungsbe-dürftigkeit ist vielmehr nach den individuellen Verhältnissen zu ermitteln. Nur wenn das betroffene Kind einen Entwicklungsstand erreicht hat, in dem es unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zeitweise sich selbst überlas-sen bleiben kann, kommt es aus kindbezogenen Gründen insoweit nicht mehr auf eine vorrangig zu prüfende Betreuungsmöglichkeit in einer kindgerechten Einrichtung an (Senatsurteile vom 15. September 2010 – XII ZR 20/09 – FamRZ 2010, 1880 Rn. 22 und vom 6. Mai 2009 – XII ZR 114/08 – FamRZ 2009, 1124 Rn. 33).
(1) Kindbezogene Gründe für eine Verlängerung des Betreuungsunter-halts nach Billigkeit entfalten im Rahmen der Billigkeitsentscheidung das stärks-te Gewicht und sind deswegen stets vorrangig zu prüfen (BT-Drucks. 16/6980 S. 9; Senatsurteile vom 15. September 2010 – XII ZR 20/09 – FamRZ 2010, 1880 Rn. 23; vom 6. Mai 2009 – XII ZR 114/08 – FamRZ 2009, 1124 Rn. 28 und BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 24).
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Allerdings hat der Gesetzgeber mit der Neuregelung des Betreuungsun-terhalts zum 1. Januar 2008 für Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres grundsätzlich den Vorrang der persönlichen Betreuung gegenüber anderen kindgerechten Betreuungsmöglichkeiten aufgegeben. In dem Umfang, in dem das Kind nach Vollendung des dritten Lebensjahres eine kindgerechte Einrich-tung besucht oder unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse besu-chen könnte, kann sich der betreuende Elternteil also nicht mehr auf die Not-wendigkeit einer persönlichen Betreuung des Kindes und somit nicht mehr auf kindbezogene Verlängerungsgründe im Sinne von § 1570 Abs. 1 Satz 3 BGB berufen. Das gilt sowohl für den rein zeitlichen Aspekt der Betreuung als auch für den sachlichen Umfang der Betreuung in einer kindgerechten Einrichtung (Senatsurteile vom 15. September 2010 – XII ZR 20/09 – FamRZ 2010, 1880 Rn. 24; vom 17. Juni 2009 – XII ZR 102/08 – FamRZ 2009, 1391 Rn. 22 f. und BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 25).
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(2) Die Berücksichtigung elternbezogener Gründe für eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts ist hingegen Ausdruck der nachehelichen Solidarität. Maßgeblich ist dabei das in der Ehe gewachsene Vertrauen in die praktizierte Rollenverteilung und die gemeinsame Ausgestaltung der Betreuung (BT-Drucks. 16/6980 S. 9). Das Vertrauen des unterhaltsberechtigten Ehegatten gewinnt bei längerer Ehedauer oder bei Aufgabe der Erwerbstätigkeit zur Erzie-hung gemeinsamer Kinder weiter an Bedeutung (§ 1570 Abs. 2 BGB). Die ausgeübte oder verlangte Erwerbstätigkeit des betreuenden Elternteils darf neben dem nach der Erziehung und Betreuung in einer Tageseinrichtung verbleiben-den Anteil der persönlichen Betreuung nicht zu einer überobligatorischen Belas-tung des betreuenden Elternteils führen (Senatsurteile vom 17. Juni 2009 – XII ZR 102/08 – FamRZ 2009, 1391 Rn. 32 und BGHZ 177, 272 = FamRZ 2009, 1739 Rn. 103). Unter Berücksichtigung des konkreten Betreuungsbedarfs ist dann eine Prüfung geboten, ob und in welchem Umfang die Erwerbsoblie-genheit des unterhaltsberechtigten Elternteils auch während der Zeit der mögli-chen Betreuung des Kindes in einer kindgerechten Einrichtung eingeschränkt ist (Senatsurteile vom 15. September 2010 – XII ZR 20/09 – FamRZ 2010, 1880; vom 6. Mai 2009 – XII ZR 114/08 – FamRZ 2009, 1124 Rn. 37 und BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 32).

der konkrete Fall

Das Berufungsgericht ist im Rahmen seiner Billigkeitsentscheidung zur Erwerbspflicht der Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass der gemein-same Sohn seit Beginn des Unterhaltszeitraums die Grundschule besucht und an zwei Tagen wöchentlich bis 15.00 Uhr im Kinderhort betreut wird. Dabei lässt es unberücksichtigt, dass der Schulhort nach den weiteren Feststellungen eine werktägliche Betreuung bis mindestens 17.00 Uhr anbietet. Weil der Ge-setzgeber mit der Neuregelung des § 1570 BGB zum 1. Januar 2008 für Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres den Vorrang der persönlichen Betreu-ung durch die Eltern aufgegeben hat, hätte das Oberlandesgericht auch die be-stehende Betreuungsmöglichkeit berücksichtigen müssen. Individuelle Umstän-de, die einer Betreuung im Schulhort in dem dort angebotenen Umfang entge-genstehen, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Ein persönlicher Betreuungsbedarf des gemeinschaftlichen Kindes steht deswegen einer vollschichti-gen Erwerbstätigkeit der Antragsgegnerin nicht entgegen.
Eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus Vertrauensgesichts-punkten kommt nur in Betracht, wenn der betreuende Elternteil das Kind neben der Betreuung in der Schule oder in weiteren kindgerechten Einrichtungen tat-sächlich persönlich betreuen muss (Senatsurteil vom 21. April 2010 – XII ZR 134/08 – FamRZ 2010, 1050 Rn. 32). Dann ist allerdings auch zu prü-fen, ob der betreuende Elternteil durch seine Erwerbstätigkeit und den verblei-benden Teil der persönlichen Betreuung überobligationsmäßig belastet wird (Senatsurteile vom 15. September 2010 – XII ZR 20/09 – FamRZ 2010, 1880 Rn. 30 und BGHZ 177, 272 = FamRZ 2008, 1739 Rn. 103 f.).
Tragfähige Umstände, die eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus diesen Gründen rechtfertigen könnten, hat das Oberlandesgericht nicht festgestellt. Zwar hat es ausgeführt, dass ein Kind im Kindergarten- und Grund-schulalter ständiger Betreuung bedürfe und auch nicht stundenweise unbeauf-sichtigt bleiben könne. Der berufstätige und zugleich betreuende Elternteil sei damit doppelt belastet, weil er das Kind umfassend versorgen und ihm gerade bei einer Betreuung in öffentlichen Einrichtungen im Interesse des Kindeswohls persönliche Zuwendung und Zuspruch gewähren müsse. Diese Erwägungen berücksichtigen schon nicht hinreichend, dass der gemeinsame Sohn an allen Werktagen nach der Schule bis mindestens 17.00 Uhr im Schulhort betreut wer-den könnte und eine Betreuung durch die Antragsgegnerin in dieser Zeit aus-scheidet. Zudem stellt das Oberlandesgericht entgegen der Rechtsprechung des Senats im Wesentlichen auf das Grundschulalter des gemeinsamen Soh-nes ab und lässt individuelle Umstände zum Betreuungsumfang und zu einer überobligatorischen Belastung vermissen. Eine solche Auffassung ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats auf der Grundlage der gesetzlichen Neuregelung nicht haltbar.

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